Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Ramelow,
ich schreibe Ihnen als Autorin, weil mich das Thema Klimagerechtigkeit sehr bewegt – gerade auch jetzt im Wahlkampf. Es hat mich sehr gefreut zu lesen, dass die Linke in Thüringen in ihrem vorläufigen Wahlprogramm dem Thema Klima und Umwelt einen recht großen Raum widmet.
Wir haben mehrere Gemeinsamkeiten, zumindest zwei. Erstens sind wir gleich alt, 65 Jahre nunmehr. Und zweitens sind wir beide „Geschichtenerzähler“. Jedenfalls steht auf Ihrer Website, dass Ihr Sohn im Kindergartenalter Ihren Beruf als „Geschichtenerzähler“ angab. Das hat mich sehr amüsiert und gefreut.
Ja, gute Politiker:innen müssen auch gute Geschichtenerzähler:innen sein. Aber ihre Geschichten sollten nicht völlig frei erfunden sein – „alternative Fakten“ wie bei Trump oder der AfD brauchen wir wahrhaftig nicht. Die Geschichten von Politiker:innen sollten Visionen sein, Visionen eines guten und klimagerechten Lebens für alle. Und das vermisse ich bei den Allermeisten. Wahrscheinlich ist das auch sehr schwer, besonders in Krisenzeiten wie jetzt in der Corona-Pandemie, sich Visionen einer besseren Welt auszumalen. Ich habe vor einiger Zeit ein Interview mit Ihnen gelesen, worin Sie schildern, dass Sie wegen der Pandemie nachts aufschrecken und dann nicht mehr einschlafen können. Sie hatten hier mein volles Mitgefühl. Ich hätte nicht in Ihrer Haut stecken mögen. Aber: Gerade in diesen brauchen wir Visionen vom besseren Leben umso dringender!
Mir ist das Wort Klimagerechtigkeit unglaublich wichtig. Wenn ich seine sinnliche Qualität beschreiben will, dann kommt mir die Assoziation „grün“ wie die Natur, aber auch „blau“ wie die Zukunft, „scharf“ wie Pfeffer und „süß“ wie Erdbeeren. Die Pfeffer-Schärfe ist nötig, weil es so schwer ist, Gerechtigkeit herzustellen und die Privilegien der Reichen und Mächtigen zu reduzieren. Und erreichte Gerechtigkeit schmeckt süß.
Klimagerechtigkeit hat für mich sehr viele verschiedene Aspekte. Einen davon hat vor kurzem das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil betont: Die ältere Generation, also wir, darf der jüngeren nicht die Kosten und Freiheitsbeschränkungen in der Klimakrise aufbürden. Der zweite Aspekt ist die globale Gerechtigkeit: Wir in den reichen Ländern dürfen die Kosten nicht den armen aufbürden, denn wir haben die Klimakatastrophe verursacht und nicht sie; dasselbe gilt für die Reichen und Armen in unserem eigenen Land. Der dritte Aspekt ist die Gerechtigkeit für alle Lebewesen. Also der Erhalt der Artenvielfalt, der Stop des Artensterbens, das Tierwohl für die Nutztiere. Und, mein persönliches Steckenpferd: Auch Pflanzen haben eine Würde und müssen geschützt, gehegt und gepflegt werden; sie sind keine zu vernutzenden Gegenstände. Zum Beispiel der Thüringer Wald, der gerade so sehr unter Dürre und Wassermangel leidet.
Worauf ich hinaus will: Versuchen Sie doch ein bisschen mehr als bisher, den Geschichtenerzähler zu spielen und den Menschen den Mund wässrig zu machen nach einer Zukunft, in der es (fast) allen besser geht. In der wir keine Angst haben müssen vor ausbleibendem Regen, Affenhitze und neuen Krankheiten; in der wir wieder normale Jahreszeiten haben und normale Niederschläge; in denen wir die Vögel in den Städten wieder zwitschern hören, weil Autos dort nur noch eingeschränkt fahren dürfen; in der Tomaten oder Erdbeeren wieder so schmecken wie früher und nicht wie Pappe aus dem Treibhaus; in der wir alle weniger und stressfreier arbeiten, deshalb auch weniger Ersatzkonsum und Statusgüter brauchen und mehr Zeit haben für uns, für die Natur, für die Welt.
Mit allen guten Wünschen: Ute Scheub
Dieser Brief wurde bei den Klima-Write-ins der Writers for Future geschrieben. Der Briefwechsel wird öffentlich geführt.