Lieber Olaf Scholz,
in dem Jahr, in dem sie in die SPD eingetreten sind, bin ich in Hamburg geboren, und dann vor den Toren Hamburgs in Schleswig-Holstein aufgewachsen. Meine Großeltern lebten in Hamburg- Poppenbüttel und wenn wir sie zu den einschlägigen Anlässen wie Geburtstag oder Weihnachten besuchten, verbrachten wir den halben Tag in der Hamburger S- Bahn. Weihnachten 1985 waren wir auch wieder bei „Oma und Opa Hamburg“, wie ich sie nannte. Der Tannenbaum war geschmückt, die Bescherung vorbei und auch die Weihnachtsgans samt Rotkohl und Klößen verspeist. In anderen Familien hätte man jetzt den Abend vielleicht gemütlich vor dem Fernseher oder mit einem gemeinsamen Brettspiel ausklingen lassen, bei uns waren die leergegessenen Teller der Startschuss zu politischen Diskussionen und Harmoniebedürfnis konnte man meiner Familie dabei nicht vorwerfen.
Diskutanten waren mein Vater, stolzes Mitglied des FDP- Ortsverbandes Pinneberg sowie mein Großvater, begeisterter Leser von Solschenizyn, Tolstoi und Gerhard Hauptmann und seit jeher SPD- Anhänger. Floskeln wie „Leistung muss sich wieder lohnen“ versus „Solidarität mit der Arbeiterklasse“ flogen durch den Raum, ich verstand wenig, spürte aber eine instinktive Sympathie mit den Positionen meines Großvaters. Denn- war es nicht auch mein Vater gewesen, der lauthals verkündet hatte, die Reichen hätten ihren Reichtum schließlich auch erarbeitet und den müsse man ihnen nicht wieder wegnehmen, während er mich bei meinen letzten Kindergeburtstag genötigt hatte, die Milky way, Hubba Bubba und Knoppers aus der Schatzkiste mit Markus und Sabine zu teilen? Dabei hatte ich den Schatz gefunden und auch ziemlich viele Aufgaben bei der Schatzsuche gelöst, fand ich. Die Diskussion schritt voran, wurde zunehmend rauer und kulminierte schließlich in der Beschimpfung meines Großvaters als „rote Socke“, was er mit unserem Rauswurf konterte. Während ich verwirrt meine neue Winterjacke anzog, grübelte ich darüber, was „rote Socken“ mit dem Streit zu tun hatten. In den nächsten Wochen herrschte Funkstille zwischen meinen Eltern und Großeltern und ich zog vorsichtshalber mein rotes Sockenpaar nicht mehr an um keinen weiteren Familieneklat herauf zu beschwören, man kann ja nie wissen.
Das alles ist jetzt 36 Jahre her. Meine Sympathie mit der SPD hat sich seit Schröder und seiner Verfolgung einer neoliberalen Agenda stark verflüchtigt. Und auch in den letzten vier Jahren GroKo hat mich die SPD enttäuscht, allem voran durch die unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen wie z.B. dem späten Kohleausstieg 2038. Dabei könnte meine alte Sympathie zur SPD wieder aufflammen: unterstützen sie statt fossilen zerstörerischen Großprojekten wie Nord- Stream 2 die finanziell schwächer gestellten Menschen in unserem Land, die Hilfe nötig haben. Spielen sie nicht länger Arbeitsplätze gegen Klimaschutz aus und stellen sie sich ihrem derzeitigen Koalitionspartner bei der Zerstörung von Arbeitsplätzen im erneuerbaren Energie Sektor entgegen. Und- beteiligen sie sich nicht weiter an der Diffamierung von Klimaschutzmaßnahmen im Wahlkampf, sondern überzeugen sie ihrerseits mit Konzepten, wie sie das 1,5 Grad Limit einhalten wollen.
Die schrecklichen Katastrophen in den letzten Tagen haben uns einen Vorgeschmack auf das gegeben, was uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten häufig an Katastrophen auch in Deutschland passieren kann. Ich denke, wir beide wünschen uns, dass die Orte unserer Kindheit nicht in ein paar Jahrzehnten dauerhaft überflutet sind- noch können wir das Schlimmste verhindern.
In Hamburg sagt man tschüß und mit solidarischen Grüßen,
Petra Nielsen
P.S. Diesen Brief habe ich bei den Klima Write-ins der Writers for Future geschrieben und er wird auf der Homepage veröffentlicht. Ich würde mich über eine Antwort sehr freuen und über die Zustimmung die Antwort ebenfalls veröffentlichen zu dürfen.