Münster, 24. 07. 2021
Sehr geehrter Herr Scholz,
wir sind in etwa der gleiche Jahrgang, nur daß ich in München, und Sie in Osnabrück geboren sind. Wir beide stammen aus einem Elternhaus, in dem ein Studium nicht selbstverständlich war. Und auch für meinen Vater kam nur die SPD als wählbare Partei infrage.
Auch in mir war das Streben nach Gerechtigkeit und ein großer Lesehunger schon früh angelegt worden; später kam auch die Begeisterung für Bewegung dazu.
Hier enden nun die Gemeinsamkeiten.
Schon in den 60er Jahren erschreckten uns alle die Prophezeiungen des Club of Rome, die ein Ende des Wachstums forderten. Dies konnten alle wissen, die es interessiert hat, aber erst mit dem Erstarken einer grünen Partei wurden die Themen Umweltschutz im öffentlichen Bewußtsein präsent.
Ab da wählte ich grün, in der Hoffnung, daß eine Partei, die die Gefahren der Atomkraft und den Schutz der Wälder (Baumsterben, Sie erinnern sich?) ernst nimmt, im Bundestag ihre Stimme erheben kann.
Allmählich gab es auch Erfolge. Dieses Pflanzengift wurde verboten und jener Vogelbestand hatte sich erholt.
Und wieder und wieder mußte ich feststellen: Die Methoden, mit denen die Natur, die begrenzten Ressourcen und auch Menschen ausgebeutet werden, wechselten. Das Prinzip „Prophitmaximierung“ blieb dasselbe.
Die Umweltgruppen und Bürgerinitiativen sind gefangen in dieser endlosen Sisiphos-Schleife. Die Vermutung, daß dies als Ablenkungsmanöver bestimmten gesellschaftlichen Gruppen gerade recht kommt, liegt nahe.
Leider war Ihre SPD, spätestens mit der Agenda 2010 für mich nicht mehr glaubwürdig mit ihrem Selbstbild „die Partei der Gerechtigkeit und Solidarität mit den Schwachen der Gesellschaft“ zu sein.
Heute stehen uns allen die Bilder aus Ahrweiler, Erftstadt und Schuld vor Augen: Verschlammte Häuser, weggeschwemmte Autos, verschüttete Straßen, zerbrochene Brücken und verschobene Gleise. Ich sehe das Grauen in den Augen der Menschen, die alles verloren haben. Manche vermissen immer noch ihre Angehörigen, viele betrauern ihre Toten.
Ich bin froh, daß unser reiches Land diesen Menschen jetzt zur Seite steht, und Sie als Finanzminister sofort versprachen, die notwendigen Gelder lockerzumachen.
Sie werden zitiert mit: „Das ganze Land muss helfen.“ Die Zerstörungen seien so immens, dass man mit Kosten in Milliardenhöhe rechnen müsse.
Aber wie lange wollen wir Geld für die Opfer unserer Politik ausgeben?
Wann beginnen wir, eine andere Politik zu machen?
Was wir jetzt brauchen, ist konsequent klimagerechtes Handeln!
Alles andere kommt uns nämlich noch viel teurer zu stehen, und das ist nur der monetäre Aspekt.
Der Zusammenhalt und das selbstlose Anpacken – wie wir sie bei einem konkreten Unglück immer wieder sehen können – ist angesichts der Klimakatastrophe mehr denn je gefragt!
Auch deshalb habe ich mir Ihr Wahlprogramm durchgelesen:
Sie wollen „die wichtigen technologischen und wirtschaftlichen Weichen stellen … um effektiv den Kampf gegen den Klimawandel zu führen.“ – ich frage Sie:
Was meinen Sie damit konkret?
Und: Glauben Sie wirklich, daß wir mit neuen Produkten das 1,5° Ziel erreichen?
Sie sprechen von „erneuerbaren Energien, … von Windkraft und die Solarenergie … von klimafreundlicher Mobilität und … (von der) Elektrifizierung des öffentlichen und individuellen Verkehrs.“
In welchen Zeiträumen denken Sie dabei?
Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, werden wir noch viele Stürme, Starkregen-Ereignisse und Hitzeperioden erlebt haben, bevor die E-Autos in ganz Deutschland fahren. Und die Älteren von uns werden nicht nur an Corona, sondern vermehrt an Hitzschlägen sterben.
Sie sagen: „Wir müssen den menschengemachten Klimawandel aufhalten. Und das heißt auch: eine nachhaltige Industrie fördern und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Wohlstandsgewinne der Industrialisierung auch in anderen Teilen der Welt ankommen.“ – das klingt gut.
Welche konkreten Schritte haben Sie dabei im Sinn?
Wie wir beim Ausstieg aus der Atomkraft gesehen haben, lassen sich die Konzerne ihre Klimabemühungen aus der Kasse der Allgemeinheit bezahlen. Wer mit Tricks vermeidet, seine Gewinne in Deutschland zu versteuern, dem wird schwer beizukommen sein. Und wer sich seit Jahrzehnten darum drückt, seine Produktion klimaneutral zu gestalten, weiß sicher auch die zusätzlichen Kosten der CO2-Neutralität auf die Steuerzahlerinnen und -zahler abzuwälzen.
Sie sagen „ich kämpfe für ein souveränes und solidarisches Europa“ und Sie wollen, daß „die Welt gerechter und friedlicher wird“.
Welches Europa meinen Sie? Das Europa, das zusieht, wie jedes Jahr zu Hunderte von Menschen im Mittelmeer ertrinken. Friedlicher? Unsere Rüstungsausgaben steigen und sollen immer weiter steigen.
Zu oft habe ich erlebt, daß Ankündigungen und Willensbekundungen nur dazu führen, daß Sisiphos ein weiteres Mal seinen Stein den Berg hochrollt und dann zusehen muß, wie er wieder runterpoltert.
Die kommende Wahl wird eine Klimawahl sein – so oder so!
Entweder Sie schmieden – hoffentlich mit ihrer Kollegin von den Grünen – eine Koalition, in der Sie auf die Klimaforschung hören und sich im Sinne aller Mitmenschen auf diesem Planeten konsequent der Klimakatastrophe entgegenstellen.
Oder die Klimakipp-Punkte werden unseren Planeten unwiderruflich verändern!
Wir brauchen keine Einzelmaßnahmen mehr, keine Anreize und Fördermittel – alles wieder Schlupflöcher für Verzögerung, Greenwashing und ja, Betrug.
Wir brauchen Verpflichtung zu
- CO2-neutralität bei allen neuen Bauprojekten statt zubetonierter Landschaften
- klimagerechte Stadtplanung, die bezahlbaren Wohnraum für Menschen schafft statt unseren Grund und Boden Investoren zu überlassen
- Ausbau der Erneuerbaren Energien und des Netzes (Windkraft, Solarenergie) statt Atomkraft und Fracking
- bezahlbare Mobilität (ÖPNV und Pendelverkehr zur Arbeit!) statt Hochgeschwindigkeitszüge
- ein Tempolimit (das sogar kostenneutral möglich wäre!) statt billiger Inlandsflüge
- einen umfassenden Umbau zu einer Landwirtschaft, die die verbliebenen Lebensräume erhält statt Gentechnik und Fleischfabriken
und das alles zusammen.
Ohne staatliche Eingriffe werden wir die Klimakipp-Punkte nicht umschiffen.
Lieber Herr Scholz, als Finanzminister, der in der Corona-Krise Geld für soviele Maßnahmen finanziert hat, traue ich Ihnen sogar zu, zu erkennen, wie Umschichtungen, Steuererhöhungen, Subventionsabbau u.a. vorgenommen werden müssen, um Deutschland auf diesem Weg voranschreiten zu lassen. (Die europäische Unternehmenssteuer war ein mutiger Schritt in die richtige Richtung!)
Dennoch hätten Sie als Kanzler eine Mammutaufgabe vor sich.
Und zugleich stünden viele viele Menschen, egal welcher Coleur, hinter Ihnen! Menschen, die wissen, daß wir diese Krise nur zusammen bewältigen können!
Ich bin gespannt auf Ihre Antwort – vorgefertigte Schreiben brauche ich nicht! – und auf Ihr weiteres Handeln!
Danke, daß Sie mir bis hierher gefolgt sind!
Ihre Bürgerin
L.R.
Dieser Brief wurde bei den Klima-Write-ins der Writers for Future geschrieben und wird auf der Homepage veröffentlicht. Ich würde mich über Ihre Zustimmung freuen, Ihre Antwort ebenfalls veröffentlichen zu dürfen.