Sehr geehrte Frau Baerbock,
ich schreibe Ihnen einen Klimagerechtigkeitsbrief, weil mir das Thema ebenso am Herzen liegt wie Ihnen. Dass Sie es als oberste Priorität setzen, freut mich sehr.
Wie Sie unter anderem auf Ihrer Website schreiben, „liegt (es) nun an uns, zu handeln. Konkret und jetzt.“ Dem kann ich so zustimmen. Allerdings frage ich mich, was genau für Sie zur nötigen umfassenden Reform zählt. Wie Sie betonen, sollten wir uns „nicht im Klein-Klein ersticken“ sondern etwas Zukunftsfähiges, Neues erschaffen.
Einige Punkte sprechen Sie und die Grünen ja an. Was ich dabei vermisse, ist eine größere Vision für eine lebenswerte Zukunft für alle. Ich würde gerne einige Ideen einbringen, was dazu gehören kann:
Zum Beispiel eine Neuausrichtung im politischen und gesellschaftlichen Umgang. Mit Ihrer internen Klärung der Kanzlerkandidatur haben Sie da ein positives Beispiel gesetzt. Ich würde mir wünschen, dass ein*e Kanzler*in es schafft, die Politik insgesamt hin zu einem konstruktiven, Wert schätzenden Miteinander zu bewegen. Natürlich ist mir bewusst, dass dazu die Bereitschaft zumindest des überwiegenden Teils der Beteiligten gehört. Dennoch glaube ich nicht, dass wir es ohne politischen und gesellschaftlichen Klimawandel schaffen. Also eine Erweiterung des demokratischen Selbstverständnisses von Debatte hin zu einem Sensing und Presencing im Sinne von Otto Scharmers „theory U“.
Ein Nebeneffekt davon wird sein, dass alle mehr von ihrem kreativen Potential in das Finden von Lösungen stecken können, als bisher. Außerdem ist es notwendig, dass die Politik und vor allem Regierung und Bundestag zu menschlichen Vorbildern werden. Nur integre Menschen können den ursprünglichen Sinn des demokratischen Auftrags für alle erfüllen – und den Herausforderungen des Klimwandels gerecht werden.
Weitere Bedingungen eines Wandels:
- Wir müssen vom Menschen-zentrierten Weltbild zum Natur- bzw. Erde-zentrierten Weltbild umdenken.
- Wir brauchen eine wirtschaftliche Grundlage wie zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen, um den Wahnsinn zu stoppen, den wir zurzeit haben: Dass Menschen Stunden um Stunden per CO2-Ausstoß pendeln, um Geld zu verdienen. Dies sollte nicht staatlich gefördert werden, da es sich um Umwelt-Kosten handeln, die direkt zur Bilanz des Arbeitgebers gehören. Das hilft u.a. auch, von sozial- oder umweltschädigenden Tätigkeiten gegen Geld Abstand zu nehmen.
- Wirtschaftswachstum muss hinter Menschlichkeit zurücktreten. Beispiele:
Im Gesundheitswesen darf kein Geld verdient werden – und es muss um die Herstellung und Erhaltung der Gesundheit gehen, nicht wie zurzeit um die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. In allen Bereichen muss es darum gehen, dass Menschen die Möglichkeit haben, sich ihrem Wesen gemäß zu entfalten (z.B. Therapien und Fortbildung nach Wahl). Es handelt sich dabei um eine Gemeinschaftsaufgabe, die Grundlage dafür zu schaffen. Denn nur dadurch erhalten alle Menschen die Möglichkeit, ihr Potential für die Gemeinschaft einzusetzen. Auf dieses Frei-werden des Potentials sind wir für die kollektive Bewältigung der bevorstehenden Wandlungen angewiesen.
Es darf deswegen auch nicht mehr darum gehen, Arbeit in den Mittelpunkt des Selbstverständnisses und der (gesellschaftlichen) Anerkennung zu stellen. Vielmehr müssen wir uns in Richtung Produktions- und Konsum-Reduzierung umorientieren. Wir müssen nicht mehr arbeiten, sondern weniger. Und die frei werdende Zeit intelligent (zB als Persönlichkeits-Entwicklung und zur Trauma-Bearbeitung) einsetzen oder nutzen lernen. Wertschätzung bedarf keiner Leistung – sie steht allen aufgrund ihrer Geburt zu.
Ich freue mich auf Ihre Antwort und wünsche Ihnen viel Erfolg.
Ihre Kandidatur hat eine Möglichkeit eröffnet, die – wie ich aus Gesprächen mit anderen Menschen weiß – Hoffnung weckt und eine wirkliche Erneuerung greifbar macht.
Viele Grüße Ellen Westphal
PS: Dieser Brief wurde bei den Klima-Write-Ins der Writers for Future geschrieben und wird auf der Homepage veröffentlicht. Ich würde mich über Ihre Zustimmung freuen, Ihre Antwort ebenfalls veröffentlichen zu dürfen.